Wer an das alte Frankfurt denkt, das Frankfurt also, das im Zweiten Weltkrieg untergegangen ist, der denkt normalerweise an die von Fachwerk geprägte Innenstadt, die aus verwinkelten, zum guten Teil schon etwas bröckelnden Häusern aus der Zeit vom Mittelalter bis zum Barock bestand und je nach Sichtweise von Verfall geprägt oder romantisch war. Diese Innenstadt ist es auch, die nach dem Krieg und zuletzt mit der Schaffung der sogenannten „Neuen Altstadt“ im Rahmen des Dom-Römer-Projekts teilweise rekonstruiert wurde, allerdings nur den Grundzügen nach und ohne Patina, was eine ordentlich-saubere Atmosphäre schafft, die es vor der Zerstörung so nie gab. Dass Frankfurt auch über eine umfangreiche klassizistische Bausubstanz verfügte, die Zeitgenossen beeindruckte, ist weniger bekannt. Das liegt in erster Linie an seiner doppelten Zerstörung. Nicht nur ein Großteil der Bauten des Klassizismus wurden im Bombenkrieg vernichtet, sondern auch der Löwenanteil der entsprechenden Bauakten, was eine Erforschung dieser Epoche der Frankfurter Baugeschichte schwierig macht.
Wesentlichen Anteil daran, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt die Formensprache des Klassizismus maßgeblich für Neubauten in Frankfurt wurde, hatte das durch Johann Georg Christian Hess verfasste und durch den Großherzog Carl Theodor von Dalberg – Frankfurt war von 1810-1813 Teil des Großherzogtums Frankfurt, eines Satellitenstaats des napoleonischen Frankreich – für verbindlich erklärte Frankfurter Baustatut von 1809, das weit über das Ende der napoleonischen Epoche hinaus bis in die 80er Jahre des 19. Jahrhunderts hinein maßgeblich blieb. Dieses Baustatut enthielt nicht nur Vorschriften zur Bausicherheit, wie etwa solche zur Reduzierung der Feuergefahr, sondern auch umfangreiche Vorschriften über die Baugestaltung. Es kam zu einem Zeitpunkt, der für die Frankfurter Bauentwicklung wichtig war – in der napoleonischen Zeit wurden die Stadtmauern geschleift, was ein Wachstumshindernis beseitigte und ein Ausgreifen der Bebauung ins Umland ermöglichte. Neue Stadtviertel konnten entstehen. Die Errichtung von Neubauten wurde damit wichtig wie nie zuvor.
Johann Georg Christian Hess (1756-1816), der Verfasser des Baustatuts, war seit 1787 Stadtbaumeister von Frankfurt und damit so etwas wie der oberste Architekt der Stadt. Hess war ein Mann der Aufklärung, der eine grundlegende Modernisierung des Bauwesens in Frankfurt anstieß, eine Modernisierung, die auf das Einfache und Symmetrische setzte und alles, was eine auf Einheitlichkeit der Gestaltung basierende Harmonie störte – etwa Erker, Zwerchhäuser und Mansarden – nicht mehr zuließ. Das bedeutendste der neuen Stadtviertel war das Fischerfeldviertel, das durch die einheitliche Bauweise bestach und in dem u. a. das Schopenhauer-Haus stand, in dem der berühmte Philosoph 16 Jahre lang wohnte. Leider hat der Zweite Weltkrieg davon nichts übriggelassen.
Johann Friedrich Christian Hess (1785-1845), Johann Georg Christians Sohn, der ihm später im Amt nachfolgen sollte und die Bedeutung seines Vaters für Frankfurt noch übertrifft, erhielt eine hervorragende Ausbildung. Ab 1802 studierte er an der damals bedeutendsten Ausbildungsstätte für Architekten in Europa, der Ecole polytechnique in Paris. Er lernte dort bei Jean-Nicolas-Louis Durand (1760-1834), einem der führenden Architekturtheoretiker der Zeit, der stilbildend wirkte und dessen Schriften vielfach nachgedruckt wurden. Einer der Kommilitonen von Hess war der bereits 1775 geborene Clemens Wenzeslaus Coudray, mit dem er 1804 eine streckenweise an der Adria entlang bis Rom führende Italienreise unternahm, über die wir aus Coudrays Aufzeichnungen unterrichtet sind. Es gab noch eine zweite Italienreise, über die die Angaben auseinandergehen.
In seinen letzten Lebensjahren war der Gesundheitszustand von Johann Georg Christian Hess nicht mehr der beste. Er ließ sich deshalb seit 1810 von seinem Sohn assistieren. 1815 heiratete Hess der Jüngere Johanna Neuburg, die Tochter des Vorstehers der Senckenbergischen Stiftung, des Arztes Johann Georg Neuburg. Bei der Hochzeit war auch Goethe zu Gast, der ein Cousin von Johannas Mutter war. Nach dem Tode seines Vaters im Jahre 1816 wurde Johann Friedrich Christian Hess, der aufgrund seiner Assistenz in die Aufgabe hineingewachsen war und ja auch von seiner theoretischen Vorbildung her die besten Voraussetzungen für das Amt mitbrachte, der Nachfolger seines Vaters. Er sollte das Amt des Stadtbaumeisters 27 Jahre innehaben und damit die klassizistische Bauepoche in Frankfurt nachhaltig prägen. Ab 1815 bekam die Frankfurter Bauentwicklung über die Schleifung der Mauern hinaus noch einmal einen nachhaltigen Schub, denn die nach dem Wiener Kongress wieder als Stadtstaat konstituierte Freie Stadt Frankfurt erlebte nach den langen Kriegsjahren der napoleonischen Epoche wirtschaftlich einen Aufschwung, der eine verstärkte Bautätigkeit ermöglichte.
Wenn auch ein Großteil des architektonischen Werkes, das Johann Friedrich Christian Hess in den genannten 27 Jahren schuf, heute verloren ist – schon vor der Kriegszerstörung wurde während der Gründerzeit einiges abgerissen – so ermöglichen die wenigen erhaltenen oder rekonstruierten Bauten es doch, zumindest einen Eindruck von seiner Baukunst zu gewinnen. Ein Bauwerk, das nicht nur seines Architekten wegen, sondern auch wegen des dort beheimateten Jüdischen Museums unbedingt einen Besuch wert ist, ist das Rothschild-Palais am nördlichen Mainufer (Untermainkai 14), die angrenzende Villa (Nr. 15) stammt ebenfalls von Hess; die beiden Villen wurden 1820/21 errichtet. Ebenfalls am Untermainkai (Nr. 4) befindet sich eine 1823 von Hess erbaute Villa, das heutige Hermann-Schlosser-Haus (benannt nach einem früheren Vorstandsvorstandsvorsitzenden der Degussa), das früher nach seinem Bauherrn Villa Schilling hieß und 1957 unter Respektierung des historischen Bauzustandes restauriert wurde. Immer einen Besuch wert ist auch das Literaturhaus Frankfurt auf der anderen Seite des Mains, das 1820-25 von Hess als Frankfurter Stadtbibliothek erbaut wurde, im Zweiten Weltkrieg allerdings so schwere Zerstörungen erlitt, dass außer der rekonstruierten Außenhülle kaum noch etwas an das Original erinnert; auch zwei früher vorhandene rückwärtige Seitenflügel fehlen. Weniger sichtbar ist Hess’ Handschrift an der Paulskirche, an deren Vollendung er 1816-33 mitwirkte, und für die schon sein Vater Pläne gezeichnet hatte (erste Pläne stammten bereits von dessen Vorgänger Johann Andreas Liebhardt) – hier wirkte er vor allem am Turm mit, einige andere Pläne von ihm konnten nicht verwirklicht werden. Für den Kaufmann Samuel Passavant (1787-1855) entwarf Hess ein 1829 in Bockenheim – das damals noch nicht zu Frankfurt gehörte – errichtetes Landhaus, das heute einen Kindergarten beherbergt. Das früheste von Hess erhaltene Werk sind die 1810/11, also noch vor seiner Ernennung zum Stadtbaumeister errichteten Affentorhäuser, die an die Stelle des im Rahmen der Schleifung der Stadtmauern abgerissenen Affentors traten und heute der Caritas gehören.
Johann Friedrich Christian Hess hatte mit seinem Vater nicht nur das Architekturtalent gemeinsam, sondern auch eine schwache Gesundheit. 1843 schied er aufgrund gesundheitlicher Probleme aus dem Amt. Zwei Jahre später starb er. Er ist auf dem Frankfurter Hauptfriedhof begraben; sein Grab wurde zum Ehrengrab erklärt.
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Textquellen:
Hils, Evelyn: Johann Friedrich Christian Hess, Stadtbaumeister des Klassizismus in Frankfurt am Main von 1816-1845, Frankfurt: Waldemar Kramer Verlag, 1987.
Eintrag über Hess im Landesgeschichtlichen Informationssystem Hessen, abgerufen von >https://www.lagis-hessen.de/pnd/118852612< am 24.05.2023.
Eintrag zu Hess in der Frankfurter Biographie, Erster Band, Frankfurt am Main: Waldemar Kramer Verlag, 1994, S. 323f.
Bildquellen:
Vorschaubild: Johann Friedrich Christian Hess, Urheber: unbekannt; hochgeladen am 31. Januar 2006 von: Flibbertigibbet via Wikimedia Commons Gemeinfrei; neu bearbeitet von Carolin Eberhardt.
Jüdisches Museum in Frankfurt am Main, 2007, Urheber: dontworry via Wikimedia Commons CC BY-SA 3.0.